Donnerstag, 16. Juli 2020

Es darf nicht mehr öffentlich geweint werden

Unter dem Label "Kopfkirmes" gibt es auf diesem Blog hin und wieder lose Wortklaubereien, die sich im Laufe der Zeit in meinem Kopf zusammengebraut haben. Sie stehen in keinem Zusammenhang zu den sonstigen Themen hier. Ich weise jegliche Bezüge zu aktuellen Geschehnissen und autobiografische Zusammenhänge von mir. Es sind Worte, die aus meinem Herz in den Kopf sprudeln, dort toben und nach Freiheit verlangen. Teilweise sind die Wortklaubereien älteren Datums, teilweise auch glänzend neu. Ich lasse sie hier einfach frei.


(Streetart von NEAL, 07.2020)

Es darf nicht mehr öffentlich geweint werden (2009)


  Es durfte nicht mehr öffentlich geweint werden. Schon seit einiger Zeit. Seit die europäische Staatsregierung 2025 dem Erlass zugestimmt hatte, sah man keine Tränen mehr auf der Straße. Weder Freuden- noch Trauertränen. Nicht dass man sie vorher oft gesehen hätte, doch nun waren Tränen, Schluchzen und laufende Nasen komplett aus dem öffentlichen Leben verschwunden. Dies sollte vor allem dem entgegenwirken, dass die Weltbevölkerung die Europäer als Heulsusen ansah. Nirgends wurden so Viele tränen wie in Europa vergossen. Ein kluger Kopf hatte herausgefunden, dass Menschen, die nicht weinen um einiges produktiver und leistungsstärker seien. Man wollte die Wirtschaft ankurbeln und dem Vorurteil der Heulsusen entgegenwirken, schließlich galt es einen Ruf zu verlieren. Die Umsätze der Taschentuchindustrie waren rapide zurückgegangen. Wenn man sich auf der Straße die Nase putzte kam es nicht selten vor, dass einen die Polizei zu ihrem Wagen begleitete und der Rotz einer Bakterienuntersuchung unterzogen wurde. Stellte sich heraus, dass es sich nicht um eine Erkältung oder eine allergische Reaktion handelte wurde man sofort mitgenommen. Oftmals wurde man dann Wochenlang in Heulhaft gesteckt, musste schwere Zwangsarbeit über sich ergehen lassen. Wiederholungstätern zeigte man Filme mit extrem traurigen Szenen, die von der Zensur vom Markt genommen worden waren. Es wurden einem so lange Szenen vorgespielt, in denen eine Frau um ihren verunglückten Mann weint, bis man nicht mal mehr ansatzweise das Kinn kräuselte. Viele Menschen verloren nach dieser Prozedur jegliche Art von Emotion, man sah sie nicht mehr lachen, hörte sie nicht mehr fluchen.

  Noch nicht mal in seinen eigenen vier Wänden durfte man weinen. Nur wer einen Wein-o-mat 2025 besaß und diesen in seiner Wohnung aufgestellt hatte, durfte noch weinen. Doch diese kleinen schallisolierten Kabinen waren sehr teuer und für einen Bürger der Mittel- und Unterschicht kaum zu bezahlen. Da das öffentliche Weinen allerdings Überhand genommen hatte und die Gefängnisse überfüllt waren, begannen einige Distriktregierungen diese Weinkabinen auch an öffentlichen Plätzen aufzustellen. Für 5 Euro konnte man dort eine viertel Stunde dem Tränendrang nachgeben, eine Verlängerung der Weinzeit war möglich.
Besonders hart traf diese Regelung Familien mit kleinen Kindern. Sobald ein Kind hinfiel und sich das Knie aufschlug, sah man die verängstigte Mutter oder den verängstigten Vater um sich blicken und den nächstgelegenen Wein-o-mat suchen. Oft konne man dann verfolgen, wie sie dann mit dem Kind in Richtung der Kabine stürzten, hektisch eine 5 Euromünze aus der Tasche kramend. Leider konnte man diese Kabinen nur alleine betreten, was besonders den Eltern teuer zu stehen kam. Hatte das Kind nach einer viertel Stunde nicht aufgehört zu weinen musste nachgezahlt werden. Öffentlicher Trost galt als tränenunterstützend und wurde mit einer Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren geahndet.
   
 An Bahnsteigen war nach der neuesten Statistik jede zweite Kabine für mindestens eine Stunde durchgehend pro Tag belegt. Für Friedhöfe hatten sich die Produzenten des Wein-o-maten etwas besonders einfallen lassen: mobile Wein-o-maten, welche leicht zu transportieren waren. Sie konnten je nach Bedarf neben Gräbern plaziert werden. Für Begräbnisse gab es eine Kostenpauschale. Die mobilen Wein-o-maten waren schon für 100 Euro zu mieten. Allerdings nur für einen Tag von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang.
 
 Die jüngere Generation hatte sich schon daran gewöhnt. Mediziner stellten fest, dass sich ihre Tränendrüsen im Laufe der Pubertät soweit zurückbildeten, dass sie lediglich zur Befeuchtung des Augapfels dienen konnten. Viele Erwachsene ließen sich operieren, um dieses Stadium der Tränendrüsen zu erlangen. Die Operation übernahm mittlerweile jeder gute Augenoptiker und sie war um einiges günstiger als ein Wein-o-mat 2025 für den Hausgebrauch. Die Operation kam aber gerade erst in Mode 10 Jahre nach dem Beschluss der europäischen Staatsregierung.
 
 So kam es, dass sich nur noch die Reichen ihre offensichtlichen Emotionen bewahren konnten. Wenn auch nur im Geheimen. Auf den Straßen hört man kaum noch lachen. Auch geflucht wird deutlich weniger. Die Menschen redeten kaum noch miteinander aus Angst den anderen zum Weinen zu bringen. Aufgrund dieses Kommunikationsmangels lernten sich kaum noch Menschen kennen. Es wurden immer weniger Kinder geboren, Beerdigungen gab es kaum noch, da die Mediziner noch keine bezahlbare Operation gegen ein kräuselndes Kinn entwickelt hatte. Die europäische Bevölkerung drohte regelrecht auszusterben.
   
 Doch es gab eine kleine Kommune versteckt auf dem Land in einem dichten Wald, welche es sich zur Aufgabe gemacht hatte die Emotionen zu retten. Jeder der sich zufällig dorthin verirrte wurde nicht mehr gesehen. Während die Staatsregierung fieberhaft an Plänen für die Wiederbelebung des Geschlechtsverkehres arbeitete wurde in einem kleinen Haus mitten im Wald gelacht bis sich alle die Bäuche hielten. Es wurde offen geweint. Sie wurde nie entdeckt. Bis sich eines Tages ein kleines Kind im Wald verirrte und in ein Dorf kam. Dort stand es auf dem Marktplatz und weinte schrecklich, da es den Weg nach Hause nicht mehr fand. Die drei Dorfkinder, welche bereits 20 Jahre alt waren, versammelten sich um das Kind und starrten es an. Eines der Dorfkinder traute sich heran und berührte das Kind an der Wange um eine der Tränen aufzufangen. Das weinende Kind begann zu lächeln und dann zu lachen. Die Dorfkinder wichen zurück. Das Kommunenkind begann zu lachen und schnell trauten sich auch die anderen Kinder und lachten mit. Anfangs noch etwas unbeholfen, doch bald lagen sie lachend auf dem Boden und hielten sich die Bäuche. Die Erwachsenen kamen, durch dem Lärm aufmerksam geworden, herbeigeeilt und zogen die Kinder auseinander. Doch auch bald mussten sie lachen und das ganze Dorf begann damit.
 
 Als sie sich wieder gefangen hatten wurde das Kind von einem Spitzel auf die Kommune zurückgebracht. Bei seinem Abschied musste das Dorf schrecklich weinen. Die Polizisten liefen umher, waren mit der Situation aber vollkommen überfordert. Sie erstatteten Meldung bei der Distriktsregierung. Als die Beschwerde die europäische Staatsregierung erreichte war bereits einige Zeit vergangen. Im Dorf waren in der Zeit drei Kinder geboren worden und 5 weitere Frauen waren schwanger. Das Dorf scherte sich nicht um das Weinverbot. Man traf sich abends auf dem Dorfplatz um zu lachen und zu weinen und sich gegenseitig zu trösten. Auch die angeforderte Verstärkung der Polizei konnte nichts erreichten. Zu oft wurden sie von Lachwogen übermannt und mussten mitlachen.
 
 Zunächst wollte die Staatsregierung eine Mauer um das abtrünnige Dorf errichten, doch die Nachricht vom Dorf in dem noch geweint werden durfte verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Bald kamen erste Schaulustige und Touristen und wer einmal kam wollte nicht wieder weg. So kam es, dass bald in der Öffentlichkeit wieder geweint und getröstet wurde, ohne Rücksicht auf Verluste. Die Staatsregierung konnte nichts mehr ausrichten, die Gefängnisse waren überfüllt und es wurde gemeutert. Auf den Straßen spielten bald wieder fröhliche Kinder die unbehelligte weinten, wenn sie vom Fahrrad fielen. Zunächst wurde das von der Regierung zugelassen, doch bald darauf musste sie geschlossen zurücktreten. Die Frau des Staatspräsidenten war fremdgegangen und hatte sich schwängern lassen. Das brach dem Präsidenten so sehr das Herz, dass er in der Parlamentssitzung anfing zu weinen. Die größte Regierungsblamage. Mittlerweile schreiben wir das Jahr 3000 und die Mediziner Rätseln immer noch darüber wie es dazu kommen konnte, dass die verkümmerten Tränendrüsen soviel Tränen produzieren können.


 (Sticker von MARAMBOLAGE, 07. 2020)

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