Dienstag, 8. September 2020

Nicht stark sein müssen sondern durchflauschen

 

  "Du bist so eine starke Frau!", in den letzten Jahren musste ich mir das öfter mal anhören. Und ich kann es nicht mehr hören. Es ist mal wieder so ein "Kompliment", welches ich nicht mehr hören möchte. Es verhält sich mit diesem Attribut der "starken Frau" so ähnlich wie mit Komplimenten zu meiner Figur. Denn so ähnlich wie für meine Figur kann ich nichts für meine Stärke. Es ist nichts, was ich mir ausgesucht habe. Ich musste so oft so stark sein, sonst wäre ich vor die Hunde gegagenen. "Du bist so eine starke Frau!" könnte in meinem Fall auch gleichgesetzt werden mit "Unglaublich, dass du atmest." An dieser Stelle könnte ich jetzt der Frage nachgehen, warum Männer das eher seltener zu hören bekommen. Aber darum soll es heute nicht gehen. Mein Blog, meine Regeln. 
 

   Ich lebe seit 20 Jahren alleine. Ein bisschen WG- Zeit, ein paar wenige Freundesmenschen, Affären hier und da, Freundschaft Plus und sonstige Agreements. Aber nichts, was irgendwie was mit einem gemeinsamen Leben oder Alltag zu tun hatte. Warum das im Zusammenhang der "starken Frau" wichtig ist? Ich bin in vielen Situationen meines Lebens auf mich gestellt. Die kleinen Krisen wie kaputter Kühlschrank oder PC bis hin zu Todesfällen oder Hochzeitsfeiern. Wenn ich nicht selbst aktiv werde, bekomme ich keine Unterstützung, keinen Beistand, keine Hilfe, keine Begleitung. Und wenn ich aktiv werde, dann muss ich auch noch das Glück haben, dass jemand zufällig Zeit oder Muse oder Können für mein Problem hat. Wenn es mir gut geht, bekommt das keiner mit, wenn es mir schlecht geht auch nicht. Es feierte niemand mit mir einfach so meine Examen, meine neuen Jobs, meine Geburtstage, meine großen und kleinen Erfolge. Es steht keiner an meiner Seite, wenn ich angepöbelt oder von Faschisten bedroht werde oder doofe Dinge hinter meinem Rücken über mich verbreitet werden. Niemand solidarisierte sich mit mir, stellte sich an meine Seite oder gar vor mich. Meistens war ich in diesen Situationen alleine, andernfalls hat jemand anders die Zähne nicht auseinanderbekommen. Vielleicht hatte ich Glück und bekam hinterher jemanden ans Telefon für Kummer und Freude, wenn nicht gerade die Kinder ins Bett oder Lebensabschnittsbegleitungsmensch bekocht oder gelüftet werden musste.
 

 
 Meistens war es eher so "Arschbacken zusammenkneifen und selber regeln". Meistens ist es in Krisen dann ja auch so, dass die Krise schon so viel Energie zieht, dass man auch nicht in der Lage ist, sich irgendwo Hilfe zu holen. Und wenn dann eben nicht zufällig jemand vorbeikommt oder gar mit einem zusammenlebt aus Bereitschaft gegenseitiger Verantwortung und Fürsorge, dann muss man eben stark sein. Da hilft ja im wahrsten Sinne des Wortes wirklich nichts. Und ganz ehrlich: Ich möchte keine starke Frau (mehr) sein. Nach 20 Jahren alleine, merke ich auch zunehmend, dass mir die Puste ausgeht. Eigentlich ist sie schon seit knapp zwei Jahren aus. Dabei versuche ich das Gefühl, zu vermeiden, mich wie eine Verräterin am Feminismus zu fühlen. Eine Frau, die nicht ohne Kerl kann, eine Single, die nicht glücklich ist. Aber ich denke nach 20 Jahren, darf ich jetzt auch einfach mal fertig bis zum Anschlag und nicht mehr stark sein. Oh und komme mir bitte jetzt niemand mit der Bedeutsamkeit und Hilfe durch gute Freundschaften, einem Hund, Katzen oder einer WG. Es gibt einen gravierenden Unterschied zwischen diesen Dingen und einer (Liebes-)Beziehung (ahne ich).


   Der Lockdown, das Homeschooling, das physical distancing entspannten mich da tatsächlich extrem. Ich musste nicht aushalten, mich nicht zusammenreißen, weil ich doofen Menschen begegnen musste. Musste nicht raus und all die happy Menschen sehen, bekam nicht ständig unter die Nase gerieben, was hier fehlt. Musste keine Menschen treffen, die mir RatSCHLÄGE geben, konnte bei mir und meinen Gefühlen bleiben. Musste mir nicht sagen lassen, dass ich ja so eine starke Frau sei. Oder dass ich aus dieser Situation ja nur gestärkt rausgehen werde.
 
 
 Vor allem bin ich der Gefahr entronnen, nochmal so Menschen wie in den letzten Jahren zu treffen. So Menschen, die sich an meiner Stärke bedienen, sie konsumieren, mich auslutschen und dann sang- und klanglos verschwinden oder maximal noch eine Textnachricht hinterlassen. Menschen die sich das Beste von mir krallen. Ja, auch dumm von mir das zuzulassen. Aber diese Menschen waren und sind geschickt. Sie schmierten mir Honig ums Maul, machten kleine Dinge gut. Viele von ihnen machten mir dieses "starke Frau" Kompliment, äußerten ihre Bewunderung darüber. Es entbindet sie davon, selber stark zu sein, weil ich es ja bin.
 

 
 Ich möchte nicht stark sein. Nicht stark sein müssen. Ich möchte auch mal schwach sein dürfen. Ich möchte mal für meine schwachen Seiten geliebt werden. Für´s Da(-)sein, nicht für´s Tun. Ich möchte mal gemocht und geliebt werden, ohne was dafür tun zu müssen. Ich möchte nicht mehr stark sein und kämpfen (müssen), sondern lieben dürfen. Ich kann es auch nicht mehr. Ich würde mir wünschen, dass auch mal jemand anderes (für mich) stark ist. Sich solidarisiert, hinter mir oder an meiner Seite steht. Sich bestenfalls auch mal vor mich stellt. Ich habe so viel Scheiße erlebt, die mich gezwungen hat, stark zu sein. Wäre ich nicht stark gewesen, geblieben, hätte ich auch aufhören können zu atmen. Und irgendwie komme ich mir schon beim Tippen dieser Zeilen wieder doof vor, weil sie so viel Stärke erfordern, von der ich das Gefühl habe, dass sie gar nicht mehr da ist. 
 
 
 Was ich sagen will: Es gibt so viele starke Menschen. Aber meistens weiß man gar nicht, warum diese Menschen so stark sind. Was sie durchgemacht haben, was sie durchmachen mussten. Vielleicht fragt ihr mal lieber, ob diese starken Menschen erzählen möchten, was sie so stark gemacht hat. Da gibt es dann eine Menge zu entdecken. Vieles davon wird sicherlich nicht schön sein, aber es wird lehrreich sein und vielleicht steckt hinter dieser Stärke und den damit verbundenen Geschichten ein Mensch, für den es sich lohnt stark zu sein. Und vielleicht kann dieser Mensch dann einfach mal wieder atmen. Mich dürft ihr auch gerne fragen, aber bewundert niemals meine Stärke, denn dahinter stehen eine ganze Menge gruseliger Geschichten. Darum möchte ich auch kein Vorbild sein. Die meisten meiner Geschichten wünsche ich keinem. Ich würde mich auch gerne mal einfach so durchflauschen, statt durchboxen. So wie mit meinem neuen Flauschschal. Vielleicht hilft der vorerst auch einfach, um mich warm anzuziehen, gegen all das, was mich kämpfen lassen muss....
 

11 Kommentare:

  1. ja, durchflauschen wäre schön, aber so war mein leben noch nie!seit 20 jahren lebe ich ohne partner, schon immer mit meinem handycap, was mir aber erst jetzt, kurz vor dem 60 immer mehr kraft raubt. und da hat eine keine andere möglichkeit als noch hilfe zu suchen, drum zu kämpfen. denn was ich brauche und was die kasse zahlt, ist nicht dasselbe. von den menschen die mir kraft raubten, habe ich mich tetrennt nachdem es mir klar wurde. und doch kommt jetzt auch die einsamkeit, hätte ich niemals gedacht. früher war ich immer die starke, die *trotzdem* alles meisterte u für alle da war. jetzt wo ich das nicht mehr kann, können die anderen schon mal gar nicht. sicher gibt es div gründe dafür, die kann ich nur erraten, denn ein reden darüber findet nicht statt, das finde ich besonders traurig. ich würde gerne abgeben von all dem vielen was ich gewältigen muss, aber da ist niemand. also atmen und weiter machen. noch ist mir nichts besseres eingefallen. mal besser, mal schlechter.........lg ursula

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    1. ja, sich von menschen, die einem kraft rauben trennen und dann trotzdem in die traufe fallen kenne ich auch. pest oder cholera... alles mist. ich wünsche dir viel kraft.
      liebe grüße,
      jule*

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  2. Das ist traurig. Aber gib die Hoffnung nicht auf, dein passendes Gegenüber zu finden. Du hattest doch mal längere Zeit einen netten Partner - Herr Fussel oder so. Vielleicht gibt es da, wo du ihn her hattest, noch mehr davon.Das ist jetzt, zu Coronazeiten, natürlich noch schwieriger, aber gibt es bei dir in der Nähe keine Singeltreffs? Ich drücke dir die Daumen! Liebe Grüße, Gundula

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    1. auf gar keinen fall nochmal sowas. nein. und alles andere ist durch. weitermachen...
      liebe grüße,
      jule*

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  3. Liebe Frau Jule,
    ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du jemand findest, bei dem du dich fallen lassen kannst und der dich auffängt, und zwar einfach, weil du du bist. Das tut so gut, auch wenn man das 'sich fallen lassen' lernen muss.
    Liebe Grüße,
    Ulrike

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  4. Liebe Frau Jule, sehr berührt von dem, was du da aufgeschrieben hast, da so wahr und nachvollziehbar.
    Auch, was du zu deinen Erfahrungen während der Coronazeit schreibst,
    die auch entlastend für mich in dieser Hinsicht waren ( trotz Anforderungen im Häuslichen ).

    Ich habe diese Sprüche momentan auch so satt. Klar, dass Bäume, die der Sturm immer wieder ordentlich durchrüttelt und runterbiegt, die sich wieder aufrichten, irgendwie stark erscheinen ( und es wohl auch sind ). Aber die vielen Risse, Verletzungen, fehlenden Äste sieht man nicht. Die sind dennoch für immer da.
    Der Flausschschal ist wunderschön und tut mir schon vom Anschauen gut...
    Drücker!
    Astrid

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  5. Liebe Frau Jule,
    so gut verstehe ich dich...bin auch die Starke, deren Schulter und Ohren, Hände, Verstand immer gern ge/benutzt wurde und die in den eigenen dunklen Stunden allein gelassen wurde. Abschied per Textnachricht und Blockierung, damit einem jeden Möglichkeit der Reaktion genommen wird...usw. Aber auch in einer Beziehung war ich allein, musste mir auch da meine Stärken vorwerfen lassen. Seit fünf Jahren darf ich mich aber mit einem Partner wohlfühlen, wenn das auch die erste Zeit sehr viel Beziehungsarbeit kostete und immer noch notwendig ist, weil einfach Verletzungen und extreme Vorsicht da sind. Freunde sind stark ausgedünnt, dafür aber echt. Allein bin ich zwar oft immer noch, jetzt aber anders. Nein sagen musste ich auch lernen, um nicht selbst zu verbrennen...ein langer Prozess. Aber nun, mit Mitte 40, ...ist es gut.
    Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass es für dich auch gut wird, so, wie es gut für dich ist. Danke an dieser Stelle für deine Posts, Gedankenanstösse, Meinung,deinen Mut und deine Gedanken... lese schon lang still bei dir und freue mich über jeden neuen Beitrag.
    Ganz besonders liebe Grüße, Susanne

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  6. Ach, Frau Jule,
    das kenne ich auch... Ich war soo lange in meinem Leben allein, das kann ich gut, aber die Sehnsucht nach Nähe im Alltag blieb. Innere Arbeit hat mir geholfen, weicher zu werden, meine Bedürfnisse zu zeigen. Und dann kam auch plötzlich der Mann in mein Leben, mit dem ich seit 10 Jahren zusammenlebe. Wir lieben uns - aber flauschig wird das Leben trotzdem nicht.
    Ich wünsche Dir, dass Deine Wünsche Erfüllung finden.
    Danke für Deinen Blog. Ich lese so gern bei Dir!
    Mit herzlichen Grüßen, Juliane

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