Mittwoch, 9. November 2016

Es ist kalt


  "Es ist deutsch in Kaltland.", dieser Spruch fiel als ich jünger war öfter, wenn meine Mitstreitenden und ich uns über Zustände und Ungerechtigkeiten in unserer Umgebung aufregten. Eigentlich hatte ich für heute einen anderen Blogeintrag geplant. Aber der schien mir für einen Tag wie heute so unglaublich unpassend, dass ich nun hier sitze und dies hier schreibe. Frei von der Leber weg. Ich werde nicht noch eine Nacht drüber schlafen, sondern gleich auf "Veröffentlichen" klicken. Wirr meine Gedanken heute morgen beim Lesen der Nachrichten. Ich muss dazu wohl nicht viel sagen. In der Türkei wiederholt sich gerade deutsche Geschichte gefühlt eins zu eins. Und auf der anderen Seite des großen Teiches....


 Beispiele. Und ja, ich bin zynisch und sage: Nichts anderes habe ich erwartet. Auf der anderen Seite heißt das aber nicht, dass ich bei dem ganzen Schwachsinn ruhig bleiben, mich in mein Nähkämmerchen zurückziehe und dem Eskapismus fröhnen werde. Das war noch nie meines und wird es auch nicht sein. Ich bin froh, dass ich heute von keinem Lernenden die Frage gestellt bekomme, was denn da schieflaufen würde. Meine Lernenden würden mich das fragen. Und vielleicht fragen sie mich in ein paar Jahren, was ich denn getan habe, an den großen und kleinen Stellen, an denen die Angeln der Welt laut quietschten. Ich werde heute sagen: Ich packe eine handvoll Kerzen in meine Tasche und werde Orte aufsuchen und Gedenkkerzen anzünden. Orte, an denen vor 78 Jahren schonmal das in hellen Flammen aufging, was diese Welt zu einem Lebenswerten Ort gemacht hat: Die Freiheit, die Vielfalt, ein klarer Geist. Vor 78 Jahren brannte es in Europa. Heute Nacht vor 78 Jahren fand die Reichspogromnacht statt. Erschreckend, dass ich bisher für heute in Hamburg nur eine kleine Veranstaltung gefunden habe, die nicht zu klassischer Musik in geschlossenen Räumen stattfindet. Ich halte nicht viel von solchen Veranstaltungen. In geschlossenen Räumen ist immer irgendwann kein Platz mehr und die Dinge, die wichtig sind, dringen nicht nacht draußen.


 Heute werde ich rausgehen und kleine Kerzen anzünden, die man im Dunkeln sehen kann. Für die Hoffnung, für das Erinnern, für das Aktive, das nicht Wegschauen. Ringelmiez hat heute morgen schon ein schönes Statement in ihren Instagramstories gebracht: Auch wenn ihr nur Handarbeitsblogs habt, wird es Zeit in die Puschen zu kommen und sich gegen Faschismus und Diskriminierung aufzulehnen. Ich hoffe es ist okay, wenn ich das lange Statement mal darauf zusammenstutze. Besucht heute eine Gedenkveranstaltung in eurer Stadt. Sollte es keine geben, sollte euch das zu denken geben. Nehmt eure Kinder mit, denn sie sind das, was morgen passieren wird. Zwar ist es kalt und ungemütlich draußen, aber das sollte wirklich die letzte Entschuldigung sein, seinen Arsch heute nicht vom Sofa zu bekommen. Denn es ist deutsch, nicht nur in Kaltland.

7 Kommentare:

  1. Absolut schockierend. Der Umgang mit Vergangenheit. Das Wahlergebnis. Die Reaktionen auf dieses Ergebnis - und das, obwohl wir uns sicher auch in einer kleinen medialen Blase befinden.
    Danke für deine Worte!

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  2. Jule,

    einerseits kann ich gut nachvollziehen was Du zum Ausdruck bringen willst, andererseits halte ich nichts davon schwarz zu sehen.

    Ich sehe da, dass hüben (Türkei) wie drüben (USA) überwiegend die ältere Bevölkerung irgendwie gerade mächtig am Rad dreht. Die Jugend hat doch dieses Nationalbewusstsein und das SichUnterdrücktFühlen weil Einwanderer, Schwule, Kurden Nachbarn sind etc. gar nicht mehr intus.

    Die Älteren wollen noch mal spielen und ihre Macht zum Ausdruck bringen. Sollen sie machen. Wichtig wird sein, dass wir nicht auch negativ und miesepetrig auf die Welt schauen und die anderen (AKP, Republikaner, AFD, Putin, IS etc.) für das Übel verantwortlich machen. Lass uns nach vorne schauen und das Gemeinsame besingen und feiern und das Trennende überwinden. Lass uns Lachen und Weinen und Lieben. Klingt kitschig, ist aber das Einzige wogegen auch die fiesen, gläubigen Waffennarren und Fremdenfeinde dieser Welt nicht ausrichten können. DAS LEBEN IST SCHÖN - auch wenn es KALT ist.

    P.S.: Und wegen der Anzahl der Gedenkveranstaltungen mache ich mir auch keine Sorgen. Für viele junge Menschen ist das einfach kein Thema mehr daran erinnern zu müssen, sondern eine Selbstverständlichkeit die in Fleisch und Blut übergegangen ist.

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    1. ich kann dir da teilweise sehr gut zustimmen. auch das mit dem, die schönen dinge feiern. schau dich auf meinem blog um. da ist so viel schönes. kinderspielzeug, herbstspaziergänge in der sonne, kuchen, kultur, buntes. das mit der jugend sehe ich allerdings nur teilweise so. ich glaube nicht, dass bestimmte dinge, dich ich als enorm wichtig erachte, in fleisch und blut übergegangen sind. es gibt genug menschen -meiner und deiner generation- die immer noch mit sehr großen scheuklappen durch die gegend laufen. fixiert auf das persönliche "glück" ohne rücksicht auf verluste. denen afd, akp, putin, trump und co herzlich egal sind, bzw. ihnen zustimmen, weil das die vermeintlichen retter ihres glückes sind. auch gibt es noch genügend menschen, die nicht wissen, wie sie sich den dingen, die sie nicht tolerieren können und dürfen entgegenstemmen. ich erinnere mich an den "verzweifelten" aufruf diverser lehrer_innenverbände im vergangenen jahr, als mit der flüchtlingswelle auch die faschistischen äußerungen in den klassenzimmern hochschlug und man nicht wusste, wie man damit umgehen solle. LEHRER_INNEN!!!! sehr bezeichnend... ich hab da nur in die tischplatte gebissen.
      vor einigen wochen hatte ich auch mal was darüber geschrieben, dass mir nur nähen, häkeln, stricken und basteln zu platt ist. und darum werde ich auch niemals leise werden. und meine hoffnung stirbt erst mit mir. ein paar vernünftige menschen kenne ich nämlich ;)
      liebst,
      jule*

      p.s.: und an dieser stelle auch mal ein dankeschön für deine immer sehr langen, guten, gedankenanregenden kommentare.

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    2. Huhu Jule,

      ja ich meine ja nicht diese materiellen schönen Sachen, die hier auf dem Blog eine Rolle spielen, sondern eben vor allem … wenn ich Kids sehe die janz selbstverständlich mit nicht-typisch-deutsch aussehenden(was auch immer das sein soll) Kindern spielen, sich solidarisch verhalten, ohne das man denen das sagen muss.

      Dass Blinde, Taube, Rollstuhlfahrer einfach zum Alltag gehören und nicht schief angeschaut werden etc. ... das ist das was ich mit Kids jeden Tag erlebe. Die sind einfach interessiert an ihren Mitmenschen.

      Schön auch letztens ein Junge der seine rassistische Mutter anblaffte "Mama, ist gut jetzt. Das will keiner hören!".

      Und gestern hörte ich im TV, die Einschätzung, dass das Ganze eher ein Problem zwischen Stadt und Land ist und nicht zwischen Arm / Reich oder Ost / West. Ich glaube da ist was dran.

      Einige von denen die ich kenne, denen so viel scheissegal ist bzw. die obendrein noch sonst wie geartet rückwärtsgewandt sind, leben einfach auf dem Land in kleinen übersichtlichen Zusammenhängen wo jeder jeden kennt und man sich gefälligst an ungeschriebene Gesetze zu halten hat und wenn nicht, dann auch die körperliche Züchtigung das Mittel der Wahl ist.

      Unsere städtische Sicht von wegen Inklusion, Feminismus, Antirassismus und was sonst noch gerade wichtig ist interessiert da schlichtweg nicht. Die wollen und können gar nicht anders.

      Das wird wohl noch Jahrhunderte dauern bis sich da was ändert.

      Dass es aus purem Unwissen, Angst und durch von meist Älteren übernommenen Vorurteilen hin und wieder zu unschönen Szenen in Klassenräumen kommt, kann ich mir gut vorstellen. Die Erfahrung zeigt irgendwie, dass spätestens wenn man gemeinsam mit Flüchtlings-Kids z.B. beim Fussball oder beim Puppenspielen gemeinsam Spass hat, einiges an blöden Angewohnheiten von allein verschwindet. Das ist irgendwie eine Frage der Zeit. Steter Tropfen und so. Auch wenn es immer wieder Rückschläge geben wird.

      Unsere Generation sehe ich ähnlich wie Du noch recht kritisch, aber das was danach kommt ist schon erheblich cooler - finde ich!

      Ich danke auch Dir, liebe Jule, dass ich meine Gedanken hier los werden kann.

      Bis bald vielleicht mal!

      Mike

      P.S.: Wolltest Du nicht irgendwann nach B kommen und wie lange hast Du noch frei?
      P.S. 2: Kannst Du aus einem gezeichneten Entwurf für ein Kuscheltier ein echtes Kuscheltier nähen?

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  3. Ich habe heute morgen auf dem Weg ins Büro mit meiner besten Freundin geschrieben. Wir haben beide das Gefühl, dass wir nicht länger bequem auf unserem Hintern sitzen bleiben können und zugucken, wie diese Welt an allen Ecken und Enden bröckelt. Ich bin noch in Schockstarre, aber die wird sich in Bewegung lösen. Mal sehen, wohin.

    Liebe Grüße,
    Sabrina

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    1. wer sich nicht bewegt, spürt seine fesseln nicht heißt es doch so schön. los geht´s! pass nur auf: wenn man einmal angefangen hat, dann weiß man irgendwann nicht mehr, an welcher front man mit dem kämpfen anfangen soll ;)
      liebe grüße,
      jule*

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