Unter
dem Label "Kopfkirmes"
gibt es auf diesem Blog hin und wieder lose Wortklaubereien, die sich
im Laufe der Zeit in meinem Kopf zusammengebraut haben. Sie stehen in
keinem Zusammenhang zu den sonstigen Themen hier. Ich weise jegliche
Bezüge zu aktuellen Geschehnissen und autobiografische Zusammenhänge
von mir. Es sind Worte, die aus meinem Herz in den Kopf sprudeln,
dort toben und nach Freiheit verlangen. Teilweise sind die
Wortklaubereien älteren Datums, teilweise auch glänzend neu. Ich
lasse sie hier einfach frei.
(Streetart von NEAL, 07.2020)
Es darf nicht mehr öffentlich geweint werden (2009)
Es
durfte nicht mehr öffentlich geweint werden. Schon seit einiger
Zeit. Seit die europäische Staatsregierung 2025 dem Erlass
zugestimmt hatte, sah man keine Tränen mehr auf der Straße. Weder
Freuden- noch Trauertränen. Nicht dass man sie vorher oft gesehen
hätte, doch nun waren Tränen, Schluchzen und laufende Nasen
komplett aus dem öffentlichen Leben verschwunden. Dies sollte vor
allem dem entgegenwirken, dass die Weltbevölkerung die Europäer als
Heulsusen ansah. Nirgends wurden so Viele tränen wie in Europa
vergossen. Ein kluger Kopf hatte herausgefunden, dass Menschen, die
nicht weinen um einiges produktiver und leistungsstärker seien. Man
wollte die Wirtschaft ankurbeln und dem Vorurteil der Heulsusen
entgegenwirken, schließlich galt es einen Ruf zu verlieren. Die
Umsätze der Taschentuchindustrie waren rapide zurückgegangen. Wenn
man sich auf der Straße die Nase putzte kam es nicht selten vor,
dass einen die Polizei zu ihrem Wagen begleitete und der Rotz einer
Bakterienuntersuchung unterzogen wurde. Stellte sich heraus, dass es
sich nicht um eine Erkältung oder eine allergische Reaktion handelte
wurde man sofort mitgenommen. Oftmals wurde man dann Wochenlang in
Heulhaft gesteckt, musste schwere Zwangsarbeit über sich ergehen
lassen. Wiederholungstätern zeigte man Filme mit extrem traurigen
Szenen, die von der Zensur vom Markt genommen worden waren. Es wurden
einem so lange Szenen vorgespielt, in denen eine Frau um ihren
verunglückten Mann weint, bis man nicht mal mehr ansatzweise das
Kinn kräuselte. Viele Menschen verloren nach dieser Prozedur
jegliche Art von Emotion, man sah sie nicht mehr lachen, hörte sie
nicht mehr fluchen.
Noch
nicht mal in seinen eigenen vier Wänden durfte man weinen. Nur wer
einen Wein-o-mat 2025 besaß und diesen in seiner Wohnung aufgestellt
hatte, durfte noch weinen. Doch diese kleinen schallisolierten
Kabinen waren sehr teuer und für einen Bürger der Mittel- und
Unterschicht kaum zu bezahlen. Da das öffentliche Weinen allerdings
Überhand genommen hatte und die Gefängnisse überfüllt waren,
begannen einige Distriktregierungen diese Weinkabinen auch an
öffentlichen Plätzen aufzustellen. Für 5 Euro konnte man dort eine
viertel Stunde dem Tränendrang nachgeben, eine Verlängerung der
Weinzeit war möglich.
Besonders hart traf diese
Regelung Familien mit kleinen Kindern. Sobald ein Kind hinfiel und
sich das Knie aufschlug, sah man die verängstigte Mutter oder den
verängstigten Vater um sich blicken und den nächstgelegenen
Wein-o-mat suchen. Oft konne man dann verfolgen, wie sie dann mit dem
Kind in Richtung der Kabine stürzten, hektisch eine 5 Euromünze aus
der Tasche kramend. Leider konnte man diese Kabinen nur alleine
betreten, was besonders den Eltern teuer zu stehen kam. Hatte das
Kind nach einer viertel Stunde nicht aufgehört zu weinen musste
nachgezahlt werden. Öffentlicher Trost galt als tränenunterstützend
und wurde mit einer Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren geahndet.
An
Bahnsteigen war nach der neuesten Statistik jede zweite Kabine für
mindestens eine Stunde durchgehend pro Tag belegt. Für
Friedhöfe hatten sich die Produzenten des Wein-o-maten etwas
besonders einfallen lassen: mobile Wein-o-maten, welche leicht zu
transportieren waren. Sie konnten je nach Bedarf neben Gräbern
plaziert werden. Für Begräbnisse gab es eine Kostenpauschale. Die
mobilen Wein-o-maten waren schon für 100 Euro zu mieten. Allerdings
nur für einen Tag von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang.
Die
jüngere Generation hatte sich schon daran gewöhnt. Mediziner
stellten fest, dass sich ihre Tränendrüsen im Laufe der Pubertät
soweit zurückbildeten, dass sie lediglich zur Befeuchtung des
Augapfels dienen konnten. Viele Erwachsene ließen sich operieren, um
dieses Stadium der Tränendrüsen zu erlangen. Die Operation übernahm
mittlerweile jeder gute Augenoptiker und sie war um einiges günstiger
als ein Wein-o-mat 2025 für den Hausgebrauch. Die Operation kam aber
gerade erst in Mode 10 Jahre nach dem Beschluss der europäischen
Staatsregierung.
So
kam es, dass sich nur noch die Reichen ihre offensichtlichen
Emotionen bewahren konnten. Wenn auch nur im Geheimen. Auf den
Straßen hört man kaum noch lachen. Auch geflucht wird deutlich
weniger. Die Menschen redeten kaum noch miteinander aus Angst den
anderen zum Weinen zu bringen. Aufgrund dieses Kommunikationsmangels
lernten sich kaum noch Menschen kennen. Es wurden immer weniger
Kinder geboren, Beerdigungen gab es kaum noch, da die Mediziner noch
keine bezahlbare Operation gegen ein kräuselndes Kinn entwickelt
hatte. Die europäische Bevölkerung drohte regelrecht auszusterben.
Doch
es gab eine kleine Kommune versteckt auf dem Land in einem dichten
Wald, welche es sich zur Aufgabe gemacht hatte die Emotionen zu
retten. Jeder der sich zufällig dorthin verirrte wurde nicht mehr
gesehen. Während die Staatsregierung fieberhaft an Plänen für die
Wiederbelebung des Geschlechtsverkehres arbeitete wurde in einem
kleinen Haus mitten im Wald gelacht bis sich alle die Bäuche
hielten. Es wurde offen geweint. Sie wurde nie entdeckt. Bis sich
eines Tages ein kleines Kind im Wald verirrte und in ein Dorf kam.
Dort stand es auf dem Marktplatz und weinte schrecklich, da es den
Weg nach Hause nicht mehr fand. Die drei Dorfkinder, welche bereits
20 Jahre alt waren, versammelten sich um das Kind und starrten es an.
Eines der Dorfkinder traute sich heran und berührte das Kind an der
Wange um eine der Tränen aufzufangen. Das weinende Kind begann zu
lächeln und dann zu lachen. Die Dorfkinder wichen zurück. Das
Kommunenkind begann zu lachen und schnell trauten sich auch die
anderen Kinder und lachten mit. Anfangs noch etwas unbeholfen, doch
bald lagen sie lachend auf dem Boden und hielten sich die Bäuche.
Die Erwachsenen kamen, durch dem Lärm aufmerksam geworden,
herbeigeeilt und zogen die Kinder auseinander. Doch auch bald mussten
sie lachen und das ganze Dorf begann damit.
Als
sie sich wieder gefangen hatten wurde das Kind von einem Spitzel auf
die Kommune zurückgebracht. Bei seinem Abschied musste das Dorf
schrecklich weinen. Die Polizisten liefen umher, waren mit der
Situation aber vollkommen überfordert. Sie erstatteten Meldung bei
der Distriktsregierung. Als die Beschwerde die europäische
Staatsregierung erreichte war bereits einige Zeit vergangen. Im Dorf
waren in der Zeit drei Kinder geboren worden und 5 weitere Frauen
waren schwanger. Das Dorf scherte sich nicht um das Weinverbot. Man
traf sich abends auf dem Dorfplatz um zu lachen und zu weinen und
sich gegenseitig zu trösten. Auch die angeforderte Verstärkung der
Polizei konnte nichts erreichten. Zu oft wurden sie von Lachwogen
übermannt und mussten mitlachen.
Zunächst wollte die
Staatsregierung eine Mauer um das abtrünnige Dorf errichten, doch
die Nachricht vom Dorf in dem noch geweint werden durfte verbreitete
sich wie ein Lauffeuer. Bald kamen erste Schaulustige und Touristen
und wer einmal kam wollte nicht wieder weg. So kam es, dass bald in
der Öffentlichkeit wieder geweint und getröstet wurde, ohne
Rücksicht auf Verluste. Die Staatsregierung konnte nichts mehr
ausrichten, die Gefängnisse waren überfüllt und es wurde
gemeutert. Auf den Straßen spielten bald wieder fröhliche Kinder
die unbehelligte weinten, wenn sie vom Fahrrad fielen. Zunächst
wurde das von der Regierung zugelassen, doch bald darauf musste sie
geschlossen zurücktreten. Die Frau des Staatspräsidenten war
fremdgegangen und hatte sich schwängern lassen. Das brach dem
Präsidenten so sehr das Herz, dass er in der Parlamentssitzung
anfing zu weinen. Die größte Regierungsblamage. Mittlerweile
schreiben wir das Jahr 3000 und die Mediziner Rätseln immer noch
darüber wie es dazu kommen konnte, dass die verkümmerten
Tränendrüsen soviel Tränen produzieren können.
(Sticker von MARAMBOLAGE, 07. 2020)
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