Mittwoch, 11. Januar 2017

Dornröschens Schlaf

 Unter dem Label "Kopfkirmes" gibt es auf diesem Blog hin und wieder lose Wortklaubereien, die sich im Laufe der Zeit in meinem Kopf zusammengebraut haben. Sie stehen in keinem Zusammenhang zu den sonstigen Themen hier. Ich weise jegliche Bezüge zu aktuellen Geschehnissen und autobiografische Zusammenhänge von mir. Es sind Worte, die aus meinem Herz in den Kopf sprudeln, dort toben und nach Freiheit verlangen. Teilweise sind die Wortklaubereien älteren Datums, teilweise auch glänzend neu. Ich lasse sie hier einfach frei. Heute auch in der Mittwochssammlung.
  

Dornröschens Schlaf (zuerst erschienen hier)

 Sie sieht so schön aus, wenn sie schläft. So friedlich. Schon seit einiger Zeit liegt sie dort, unbeweglich. Die Rosen vor dem Fenster ranken weiter. In den Verzweigungen nisten die Vögel. Sie bauen die Nester, legen Eier, brüten, ziehen die Jungen groß und sorgen dafür, dass sie flügge werden. Der Regen trommelt ans Fenster, an manchen Tagen knallt die Sonne unerbitterlich auf ihre weiße Haut, die sich dennoch nicht der Bräune ergibt.
Unter dem Fenster spielen die Kinder Cowboy und Indianer. Der Ball prallt öfter an die Mauer, aber Dornröschen schläft. Sie hört nichts. Andere Erwachsene schimpfen lauthals mit den Kindern, auch wenn ihre Autos um einiges mehr an Lärm machen. Das fällt ihnen nicht auf.

 Wovon sie wohl träumt? Ob sie überhaupt träumt? Sie liegt regungslos dort. Sieht nicht den Regenbogen, sieht nicht die Raben auf dem Dach gegenüber, die um ein Stück Brot aus der Mülltonne zanken. Hört nicht die Müllmänner mit den Tonnen klappern. An der Zimmerdecke spinnt die Spinne ungestört ihr Netz. Doch Fliegen wird sie nicht fangen. Es kommen keine durch die geschlossenen Fenster. Vielleicht wird sie morgen ein Netz an Dornröschens Nase spinnen. Denn Dornröschen schläft.

 Äpfel mochte Dornröschen so gerne, früher als sie noch kleiner war. Der Gärtner hatte ihr des öfteren einen geschenkt, wenn die Herbstzeit nahte und die Äpfel so reich am Baum hingen, dass sich die Äste bogen. Dann war sie oft auch Drachen steigen gegangen. Der Wind hatte ihr langes Haar zerzaust. Als sie älter wurde, begann sie es zu strengen Zöpfen zu flechten, die sich auch heute noch um ihr Gesicht ranken. Jetzt liegt sie dort und fast wie die Rosen vor dem Fenster eben jenes verziehren, fallen die Zöpfe um ihr Gesicht.

 Oft hatte sie auch damals die Meisen beobachtet. Sie mochte sie so gerne. Diese kleinen Tiere, die sich an den Milchpfützen im Kuhstall stärkten. Wie sie zwitschernd aufflogen, wenn sich die Katze näherte. Und wie viele verschiedene Färbungen es von ihnen gab. Blaue und Schwarze, einige mit langen Schwänzen. Es sind die Meisen, die vor Dornröschens Fenster in den Rosen nisten. Sie zwitschern ohne Unterlass. Die kleinen beim Flügge werden, sehr nervös, die älteren beruhigender. Eine Katze kann ihnen nicht gefährlich werden, dennoch gibt es viel vor dem sie warnen könnten. Dornröschen schläft.

 Als Kind hatte sie eine gesündere Hautfarbe. Heute sind die roten Pausbäckchen einem fahlen Weiß gewichen. Dürr ist sie geworden, man kann die Knochen an jeder Körperstelle sehen, die von ihrem Kleid umspielt werden. Knochig die Finger, das Gesicht fast ein wenig eingefallen.

 Die wandernde Sonne zieht die Schatten der Fensterkreuze in Bahnen auf dem Teppich. Jeden Tag aufs neue. Nur wenn es regnet wirken sie etwas schwacher auf dem schweren und leicht verblassten Bodenbelag. In der Sonne wirken die Fenster auch etwas blind. Sie sind dreckig. Lange hat niemand mehr geputzt. Auf allem im Raum legt sich eine Staubschicht ab. Dornröschen schläft.

 Im Gegensatz zu den Rosen vor dem Fenster an der Hauswand, verwelken die Blumen auf dem Fensterbrett recht schnell. Lange wurden sie nicht mehr gegossen, die braunen Blättchen nicht mehr gezupft. Auch hier hat die Spinne schon ihre Spuren hinterlassen.
Ein süßlicher Geruch durchweht den Raum, in welchem Dornröschen schläft.

 Es klopft an die Tür, hämmert schon fast. Laut und drängend.
 „Hallo? Hallo?“, brüllt eine Stimme von draußen. „Jemand da?“
 Kurz darauf das Splittern von Holz, ein Krachen.
 „Polizei! Jemand da? Frau Dorn?“, der blonde Prinz steht in der Wohnung. Seine blaue Uniform ist keine Rüstung, sein Schwert eine Pistole. Die Handschellen am Gürtel klirren, als er hektisch in seiner Tasche nach dem Taschentuch sucht und es sich vor die Nase presst.
 „Verflucht, was für ein Gestank!“, entfährt es ihm, als er vor Dornröschen steht.
 „Peter, wir sind zu spät. Ruf das Bestattungsunternehmen.“, weist er seinen Kollegen an, welcher nicht sein Knappe ist.

 Rosa Dorn, 98 Jahre alt, ledig, kinderlos, verstorben vor 100 Tagen. 100 Tage Schlaf, bevor man sie für tot erklärte. Die Nachbarn hatten sich über den Gestank beschwert. Dornröschen schläft nicht mehr, Dornröschen ist tot. 

5 Kommentare:

  1. Ich bin immer wieder fasziniert davon, was in deinem Kopf so los ist :)
    Liebe Grüße vom einen Schietwetterort zum anderen!

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  2. Es ist so traurig, dass das Versterben vieler Leute erst dann jemandem auffällt, wenn der Gestank nach draußen dringt. Nicht die Tatsache, dass man //Frau Dorn// schon seit Tagen nicht mehr am Briefkasten gesehen hat oder so...

    Nachdenkliche Grüße,
    Sabrina

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    1. ja, das stimmt. dabei bin ich mir nichtmal sicher, ob das nur ein typisches großstadtproblem ist....
      liebe grüße,
      jule*

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    2. Vermutlich nicht, nein. Aber ich denke schon, dass es in größeren Wohnkomplexen mit hoher Mieterfluktuation schneller mal passieren kann, dass man tatsächlich nicht genau weiß, wer um einen herum so wohnt und wie es dem geht. Ich habe zum Beispiel wirklich keine Ahnung, wer so zu meinem Haus gehört.

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